Die Kunst, nicht auf Kosten anderer zu leben
Gilles Clément spricht im Interview über das Potential der Beobachtung der Natur als Konzept für die Vision einer globalen Zukunft.
Gilles Clément, geboren 1943, ist Gärtner, Landschaftsgestalter, Künstler, Pädagoge und Autor. Er hat in Frankreich sowie auch in anderen Ländern, darunter Deutschland, zahlreiche Landschaftsgärten gestaltet. Als Autor verfasst er Erzählungen sowie Schriften zu seinen Ideen der Gartenkunst. Auf Deutsch sind erschienen: „Die Weisheit des Gärtners“, „Gärten, Landschaft und das Genie der Natur“ (beides Matthes & Seitz) sowie „Manifest der Dritten Landschaft“ (Merve Verlag).
Interview: Astrid Kaminski
Gilles Clément, benutzen Sie Anti-Mückenspray?
Nein, niemals. Manchmal benutze ich am Abend, wenn ich während der Arbeit geärgert wurde, etwas um den Reiz zu lindern. Hier, in diesem Teil Frankreichs, im Département Creuse, wo ich meinen Garten habe und von Frühling bis Herbst wohne, gibt es wenig Mücken. Zudem haben sich in einem kleinen Wasserbassin vor meinem Haus Libellen angesiedelt, die insbesondere Mückenlarven essen. Meine Anti-Mückenmittel sind also Libellen. Das ist das Tolle an einer großen Diversität: ein beständiger Ausgleich.
Sie leben nicht nur mit einem Garten, sondern Sie leben nach seinen Gesetzen, Sie leben den Garten. Auch Ihr Haus soll offen für Pflanzen, Tiere und Menschen sein. Wie kultivieren Sie diese Offenheit?
Ich habe mich bereits als Kind für Raupen und das Wunder interessiert, wie und dass sie Schmetterlinge werden. Diese eigentlich unvorstellbare Metamorphose hat mich seitdem angetrieben, mich für das fantastische Potential des mehr als menschlichen Lebens zu faszinieren – welcher Art es auch sei. Durch das Beobachten bin ich zur Überzeugung gekommen, dass sich ein Ökosystem mit großer Diversität gut selbst reguliert. Das bringt mich dazu, nach dem Prinzip der Offenheit und nicht des Ausschlusses zu leben. Daher habe ich mich auch von allen Pestiziden, Gegenmitteln etc. befreit, die nur dafür gemacht wurden, bestimmte Art zu töten. Letztlich also töten sie. Zudem deregulieren sie das System.
Lassen Sie sich also nie ärgern von, sagen wir, untugendhaften Eigenschaften von Pflanzen oder Tieren?
Ich versuche den Sinn davon zu entdecken. Und wenn ich ihn entdecke, bin ich glücklich. Ein Beispiel sind die Maulwürfe. Sie werden oft gehasst. Die Hügel, die sie aufwerfen, sind nicht besonders schön. Was sie aber darüber hinaus tun: Sie befördern Samen einer früheren Kultivierungsstufe nach oben, die es, weil sie zu kurz sind, alleine nicht schaffen würden, und darum auf nichts anderes als solche Hilfe warten. Zusammenfassend gesagt: Es geht darum, all die gehassten Tiere als Assistenten des Gärtners zu begreifen, um ein Stück Erde der Vielfalt zu ermöglichen.
Sie haben Ihr ganzes Leben lang Gärten kreiert. Eine ihrer Grundüberzeugungen ist, dass ein Garten – und auch die Erde als Ganze bezeichnen sie als solchen, als planetarischen Garten – in Bewegung ist und keine Grenzen akzeptiert. Wie kamen Sie zu dieser Überzeugung?
Es gibt keine biologischen Grenzen, mit einer Ausnahme: die klimatischen Grenzen. Für den Wind, die Vögel, alle anderen Tiere, die Samen von hier nach dort transportieren, gibt es keine Grenzen. Administrative Grenzen und Eigentum existieren in der Pflanzenwelt nicht. Was es dagegen gibt, ist eine gewisse Mission eines Territoriums, die Arten, die sich dort ansiedeln, zu versorgen. Diese Mission ist immer auch einem Wandel, einer Bewegung verbunden, ansonsten kann das Terrain sich nicht erhalten. In Bezug auf den Klimawandel heißt das zum Beispiel: Das Leben eines Territoriums versucht sich anzupassen. Es kann sich nicht wie zuvor erhalten und auch nicht künstlich erhalten werden. Das wird dahin führen, dass einige Arten, die nicht gut wandern können, nicht überleben, andere dafür dominanter werden und wiederum andere sich an die veränderten Verhältnisse genetisch anpassen. In dieser Beziehung sind wir als Menschen tendenziell bevorteilt. Wir können, theoretisch, aus politischen, ökonomischen oder klimatischen Gründen migrieren. Umso absurder ist es, diese Migration, wenn Menschen unter den Bedingungen eines Ortes nicht mehr leben können, zu untersagen.
Andererseits: Die Rolle des Gärtners, so haben Sie geschrieben, sei die eines „Grenzenkünstlers“. Er sorge dafür, dass die geschaffene Form sowohl den Sinn des Projekts als auch den Respekt vor dem Leben enthalte. Wie gestaltet sich diese Grenzkunst?
Das Wort Garten geht auf zwei Ursprünge zurück: Paradies und Gehege. Das Gehege wurde von den ersten sesshaft werdenden Nomaden geschaffen. Statt die Früchte am Wegrand während ihrer Wanderungen zu sammeln, haben sie das Beste aus ihrem Erfahrungsschatz ausgewählt, um es an einem geschützten Platz zu züchten. Die Grenze hat also eine Schutzfunktion, um etwas Kostbares zu bewahren. Was jedoch nur so lange im globalen Kontext funktioniert, als es nicht auf Kosten anderer Lebensweisen geht. Die Kunst des Gärtnerns besteht darin, das, was kultiviert wird, nicht auf Kosten anderer zu kultivieren.
Sie schreiben: „Dieser McDonald’s-Teil der Erdoberfläche reißt die meisten der von seinem System beherrschten Zivilisationen mit sich.“ Um an einer Veränderung zu arbeiten, schlagen Sie das Prinzip der Beobachtung des Gartens vor. Dadurch sei ein Zusammenleben zu erlernen. Braucht es dafür einen eigenen Garten?
Generell ist die Beobachtung des Lebendigen schwierig, weil sie in den Schulen und Universitäten kaum gelehrt wird. Wenn man in die Natur geht, dann um Sport zu treiben, Fotos zu machen, Partys von mir aus. Die Natur ist ein Ort geworden, wo Erwachsenen sich aufführen, als seien sie Kinder. All das hat nichts mit einem Sinn für das Lebendige zu tun. Das ist dramatisch. Wenn man einen Garten hat, verpflichtet das zum Begreifen, was dort passiert. Auch wenn man keine wissenschaftliche Bildung hat, führt das Beobachten Stück für Stück dahin, zu lernen und zu verstehen. Ohne eigenen Garten ist es schwieriger. Die Bedingungen und Faktoren eines kommunal verwalteten Parks sind zu unüberschaubar. Leider wird es nicht möglich sein, dass jede Person einen eigenen Garten als Beobachtungsgrundlage hat. Aber es gibt zum Glück immer mehr Gemeinschaftsgärten und es wäre auch möglich, das Konzept von Parks in diese Richtung zu entwickeln.
Das Corona Virus hat eine Rückbesinnung auf die Natur hervorgebracht. Als scheinbar sicherer Rückzugsort, aber auch als Ort zukünftigen Lebens. Wie nehmen Sie diese Tendenz wahr?
Rauszugehen in die Natur, um dem Virus zu entkommen, ist erst einmal eine Illusion. Als gäbe es Reservate, in die ein Virus nicht eindringen kann. Es ist überall. Natürlich kann man sich sagen, ich gehe irgendwohin, wo nicht viele kontaminierte Menschen sind. Aber letztlich sitzen wir alle im selben Bad. Wir leben, auch wenn wir keine Fische sind, im Wasser und vom Wasser. Die Atmosphäre ist nichts als Wasser. Wir sind darüber auch beständig im Kontakt mit Mikro-Organismen. Und mehr als das. Wir nehmen auch beständig Mikroplasik zu uns, ohne uns dessen bewusst zu sein. Sich zu isolieren, um sich zu beschützen, ist eine Illusion.
Ich sehe jedoch durchaus einen Sinn in der Bewegung aus den Städten hinaus aufs Land. Diese Bewegung wertet aufgegebene Regionen wieder auf und eröffnet Möglichkeiten, regionale Lebensmodelle zu erlernen. Das Départment Creuse, indem ich lebe, ist beispielsweise sehr gering bevölkert. In den letzten Jahren sind nun Bewohner:innen dazu gekommen. Das tut dem Charakter der Orte gut und auch den Menschen, die plötzlich mit Grünflächen vor den Häusern konfrontiert werden und anfangen zu lernen, was eine Pflanze ist. Welche Schmetterlinge und Vögel es gibt. Das heißt, sie lernen etwas Konstruktives über das Leben. Noch wichtiger ist, dass es junge Menschen gibt, die aus den Universitäten kommen und sagen: Wir wollen nicht so leben, wie es uns beigebracht wurde, wir wollen anders leben. Das sind Menschen, die die ernsthaften Probleme der Art, wie wir auf unserem Planeten leben, erkannt haben. Wir wissen noch nicht, wie es ihnen gelingen wird, etwas zu ändern – aber wir werden es von ihnen lernen.
Für die Zukunft der Erde schlagen Sie vor, dass der Ökonom auch nach Ihrem Motto des Gärtnerns leben soll. Das heißt nach dem Motto „So viel möglich dafür, so wenig wie möglich dagegen tun“?
In diesem Sinn würde er nicht die Gesetze des Konsums proklamieren. Zum Beispiel wäre es sinnvoll, wenn wir so lebten, dass wir so wenig wie möglich krank werden. Wie geht das? Dadurch, dass wir anders leben! In der traditionellen chinesischen Medizin war es so, dass man den Arzt für Ratschläge bezahlte, um nicht krank zu werden. Wenn man dann doch einmal krank wurde, dann war die Behandlung umsonst. Ein simpler Tipp ist, nichts im schädlichen Maß Unnötiges zu konsumieren. Cola fällt also weg. Vieles fällt weg. In die Ferien fahren nur um des Wegfahrens Willen fällt auch weg. Unnötige Medikamente fallen weg. Es kann doch nicht normal sein, dass wir uns einrichten in einem Leben, in dem wir mehr konsumieren, als wir brauchen. Lasst uns die Werbung ausschalten! Wieso braucht eine Person acht Paar Schuhe? Wieso kann man nicht eine Zahnbürste, sondern muss immer gleich ein ganzes Sortiment davon kaufen? Um sie zu vererben? Ich verstehe es einfach nicht. Es ist vollkommen klar, dass Konsumieren das ökologisch Schwerwiegendste ist, was wir tun können. Es muss also aufhören.
Ein Ökonom wäre jemand, der uns beibringt, so wenig wie möglich Ressourcen zu erschöpfen. Stattdessen gibt es Gesetze, die uns verbieten, unsere eigenen Medikamente zu produzieren, die uns verbieten, unsere eigenen Dünger herzustellen. In Frankreich gab es 2007 ein Gesetz zur sogenannten agrikulturellen Orientierung, das es verbot, einen natürlichen Nährstoff für Pflanzen herzustellen, der gleichzeitig stärkend und schützend ist, die Pflanzen also davor bewahrt, krank zu werden. Dieser Nährstoff riecht bei der Herstellung nicht besonders gut, aber das ist auch schon das einzig Negative, was man darüber sagen kann. Das heißt, uns wird der Zugang zur Kostenlosigkeit verweigert. Dasselbe gilt für’s Saatgut. Es ist verboten und wird unter Strafe gestellt, die Saaten der eigenen Ernte zu verkaufen.
Sie plädieren für eine größere Unabhängigkeit.
Für eine Ökonomie der Unabhängigkeit könnten wir uns von einem Sprichwort leiten lassen: Man legt nicht alle seine Eier in denselben Korb. Wenn man nur Hühner züchtet und deren Eier in denselben Korb legt, der Korb aber herunterfällt, dann hat man nichts mehr. Wer aber nicht nur auf Hühner gesetzt hat, muss sich keine Sorgen machen, wenn ein Korb fällt. Die Monokultur, die einseitige, industrielle Ausnutzung des Bodens, ist das Gefährlichste, was wir uns und der Erde antun können. Die Monokultur zerstört beides: den planetarischen Garten und die Wirtschaft.
Das Beispiel der Weizenproduktion in der Ukraine ist doch unglaublich. Wie kann es sein, dass wir einen Krieg in Europa brauchen, um zu realisieren, dass ein Großteil des weltweiten Grundnahrungsmittelbedarfs in einem einzigen Teil der Erde produziert wird? Der Korb fällt, und wo führt das hin? Zu einer Hungersnot in Afrika, um nur das Schlimmste zu nennen Wie kann es sein, dass die Menschheit sich zu solch einer Dummheit fähig ist? Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich aufrege!
Sie wünschen sich in Ihren Schriften ein viel größeres Recyclingbewusstsein. Sie fragen: „Kann unser Haus ein Auto werden, unser Auto ein Computer und dieser wiederum ein Garten?“ Was denken Sie, durch welche Übungen könnten wir uns diesem Ideal annähern?
Wenn Sie den Garten beobachten, sehen Sie jeden Tag etwas Neues. Es gibt eigentlich keine Form, die sich als solche erhält. Formen sind Gesten und Signale, man kann sie nicht verewigen – das wäre eine Illusion. Die Geschichte des Blatts, das vom Baum fällt, sich auflöst, eine mineralische Materialität annimmt, letztlich aufgenommen wird von einer Pflanze oder einem Tier und sich in etwas Unvorhersehbares verwandelt, diese Dynamik ist wunderbar. Ein erster Schritt zu einer recycelten Stadt wäre daher, ein Bewusstsein für solche Prozesse wieder herzustellen. Es ist klar, dass wir, wenn wir es Wälder verbrennen, nichts anderes tun, als den Planeten zu zerstören. Wir zerstören zudem die Schule, in der wir etwas über das Leben lernen könnten.
Überraschend finde ich, dass Sie jedoch nicht zwangsläufig für Renaturierungen sind, sondern die Idee einer Dritten Landschaft entwickelt haben: einem post-industriellen oder urbanem Raum, der nicht von Gärtnern gestaltet wird, sondern sich selbst überlassen?
Richtig, die Dritte Landschaft ist ein Raum, in den der Mensch nicht eingreift sondern nur beobachtet, wie die Natur sich bereits kultivierte Landschaften, seien es landwirtschaftliche Flächen oder industrielle Zonen, zurückerobert. Die Art von Leben und Diversität, die sich auf diese Art entwickelt, kann wunderbar sein, ganz anders, als wir sie uns ausdenken könnten. Unlängst wurde ich nach Völklingen ins Saarland eingeladen, eine Stadt, die sehr wichtig für die Eisenproduktion war. Seit 30 Jahren liegt die industrielle Landschaft nun brach. Man hat dort mein „Manifest der Dritten Landschaft“ gelesen und es als Grundlage für den Umgang mit dem Terrain gebraucht. Ich war überrascht, wie gut das funktioniert. Das Einzige, was es nun, meiner Ansicht nach, noch bräuchte, ist eine Pädagogie, die vermittelt, was dort passiert.
Als Nicolas Sarkozy an die Macht kam, haben Sie die Zusammenarbeit mit staatlichen Initiativnehmer:innen bis auf Weiteres aufgekündigt. Kann der Zeitgenössische Garten ein Akt der Resistance sein? Und welche Chance hat er als solcher?
Ja, ein Garten, in dem ich die Entfaltung des Lebens beobachten kann und davon lernen, kann für mich ein Ort des Widerstands sein, auch wenn ich das nicht intendiert hatte. Ein Ort auch, sich dem Markt eines falsch verstandenen Wachstums zu entziehen. Wenn ein Garten der Ort ist, an dem ich das Leben erhalte, gegen die Prinzipien des Tötens an, dann wird er ein Ort des Widerstands.
Eine gekürzte Fassung dieses Gesprächs erschien in der tageszeitung, taz.