Der Puls von hunderttausend Herzen

Der Garten und seine Bewohner:innen – seien es Blumen, Bäume, Vögel oder Menschen – dient(e) vielen Komponist:innen als Inspirationsquelle, oder wie der japanische Komponist Tōru Takemitsu es einmal ausdrückte: „Meine Musik ist wie ein Garten und ich bin der Gärtner.“ Die Sängerin, Übersetzerin und Köchin Katrin Thomaneck hat fünf Beispiele aus der Musikgeschichte versammelt, in der Pflanzen die Hauptrolle spielen.

Georg Philipp Telemann: Der unersättliche Blumensammler 

Georg Philipp Telemann (1681-1767), einer der produktivsten Komponisten seiner Zeit, wird in seinen späten Jahren zum leidenschaftlichen Gärtner: „Ob die Musik zwar mein Acker und Pflug ist, und mir zum Hauptergetzen dienet, so habe ich ihr doch seither ein paar Jahren eine Gefehrtinn zugesellet, nemlich die Bluhmen-Liebe, welche beyde wechselweise mich ihrer Annehmlichkeiten theilhaft machen… Ich gestehe demnach meine Unersättlichkeit in Hyazinthen und Tulpen, meinen Geiz nach Ranunkeln und besonders Anemonen…“, schreibt Telemann 1742 in einem Brief an seinen Frankfurter Freund Johann Friedrich Armand von Uffenbach.

Telemann besaß, wie viele wohlhabende Bürger Hamburgs, einen großen, im barocken Stil angelegten Garten, der als ein bedeutender Garten der Hansestadt galt. Sein Standort ist nicht überliefert, jedoch ein Pflanzenverzeichnis mit über 70 aufgelisteten Arten. Telemann korrespondierte mit den Leitern der Botanischen Gärten in Berlin und Göttingen, Gleditsch und Haller. Zudem nutzte er sein weitläufiges Netzwerk an Musikerkollegen und ließ sich seltene Samen, Zwiebeln, Aloen und Kakteen liefern, so vom Violonisten und Komponisten Johann Georg Pisendel am Dresdener Hof, von den Komponisten Carl Heinrich Graun und C.P.E. Bach in Berlin, wie auch von Georg Friedrich Händel aus London.

Wer weiß, vielleicht befand sich sein Garten ganz in der Nähe desjenigen seines Freundes Barthold Heinrich Brockes, des berühmten Barockdichters? Dessen Gedicht Alles redet itzt und singet vertonte Telemann 1720 in der gleichnamigen Frühlingskantate, in der Sopran und Bass in der lautmalerischen Beschreibung der erwachenden Natur mit einem Instrumentalensemble wetteifern. Die in Brockes Sing-Gedicht „uns zur Andacht reitzende Vergnügung des Gehörs im Frühlinge“ könnte ein Grund für die leeren Kirchen gewesen sein, so zumindest legt es Telemann nahe, der die Hamburger:innen bei schönem Wetter lieber in ihren Gärten weilen sah, wo „die Natur selbst musiziert“.

LINK: Kantate Alles redet itzt und singet

Giacomo Puccini: Die Blume der Unsterblichkeit

So vielfältig wie die verschiedenen Sorten der Chrysantheme und ihre Bedeutung in den jeweiligen Kulturen ist auch ihr Erscheinen in der Musikwelt. In China symbolisiert sie zum Beispiel Beständigkeit und verheißt ein langes Leben, sie zählt in der Tradition der Tuschemalerei neben Bambus, Pflaume und Orchidee zu den „Vier Edlen“. In Japan heißt die Chrysantheme „Kiku“ (Abendsonne), sie steht für Vollkommenheit und Unsterblichkeit und ist die Nationalblume schlechthin: Eine goldene, sechzehnblättrige Chrysantheme ziert das Kaiserliche Siegel, das Staatswappen Japans.

Die Zierpflanze kam Ende des 17. Jahrhunderts nach Europa. Ihre Blütezeit fällt in den (späten) Herbst, man findet sie daher oft als „Totengedenk“-Blume in Grabgestecken. Diese Symbolik der Chrysantheme als Zeichen der Trauer und des Gedenkens greift Giacomo Puccini (1858-1924), einer der bekanntesten Opernkomponisten seiner Zeit, in einer seiner wenigen Kompositionen für Kammermusik auf. In dem Streichquartettsatz Crisantemi bringt er seinen Schmerz über den Tod eines Freundes zum Ausdruck. Puccini wusste um die Wirkung seiner Musik, er verwendete das Thema erneut, um die Sterbeszene der Titelheldin seiner Oper Manon Lescaut zu begleiten.

Die Chrysantheme findet sich auch in vielen weiteren Kompositionen (u.a. von André Messager, Jules Massenet, Tōru Takemitsu). Als Gegenbeispiel zur wehmütigen Trauermusik sei der unbeschwerte Vals Crisantemo des kubanischen Komponisten Ernesto Lecuona erwähnt.  

LINK: Giacomo Puccini, Crisantemi

Lili Boulanger: In Roms ewigen Gärten

„Sie wusste, dass ihr Leben kurz sein würde, ihre Zeit bemessen… Sie hatte niemals die leiseste Spur von Auflehnung gezeigt, nur das überwältigende Bedürfnis, zu sagen, was sie zu sagen hatte“, schrieb Nadia Boulanger über Lili, ihre im Alter von nur 24 Jahren verstorbene, jüngere Schwester. Lili Boulanger (1893-1918), die Hochbegabte, erhielt früh Unterricht in Klavier, Violine, Violoncello, Orgel und Harfe. Sie begleitete Nadia ans Conservatoire de Paris – so oft es ihr chronisches Bronchialleiden zuließ – und besuchte dort u.a. den Kompositionsunterricht bei Gabriel Fauré. Sie beschloss Komponistin zu werden und gewann 1913 als erste Frau den Hauptpreis des renommierten Prix de Rome, der aus einem Stipendium und einem Aufenthalt in der Villa Medici bestand, der Französischen Akademie in Rom.

Hier schrieb Lili Boulanger im Frühsommer 1914 ihre Trois morceaux pour piano (Drei Stücke für Klavier), die wie viele ihrer Kompositionen die Natur zum Thema haben. D’un vieux jardin (Der alte Garten) beschwört in der Lili Boulanger eigenen musikalischen Sprache – hier in melancholischen und manchmal fast jazzhaft wirkenden Klangbildern – die Erinnerungen an den Garten der Villa Medici. Die Villa wurde auf den Überresten der antiken Villa und der Gärten des römischen Senators Lucius Licinius Lucullus errichtet. Die berühmten Gärten des Lucullus waren eine der prunkvollsten Grünanlagen ihrer Zeit. Lili Boulangers Komposition lässt die Atmosphäre dieses alten Gartens spürbar werden.  

LINK: Lili Boulanger, D’un vieux jardin

Billy Strayhorn: Floraler Jazz

William „Billy“ Strayhorn (1915-1967) ist der Autor so bekannter Jazz-Standards wie Take the A Train, Lush Life, geschrieben im Alter von 17 Jahren, sowie Chelsea Bridge. Bekannt wurde er als Komponist und Arrangeur des Duke Ellington Orchestra – Duke nannte ihn „seine linke und rechte Hand“. Billy Strayhorn stammte aus einer armen Familie. Seine Mutter und Großmutter förderten sein musikalisches Talent, er musste jedoch eigenständig Geld verdienen, um sein Klavier und den Unterricht zu bezahlen. Er durchlief eine klassische Musikausbildung, aber eine Karriere in der Klassikwelt war ihm als Afroamerikaner in der damaligen Zeit aufgrund rassistischer Stereotype nicht möglich.

Blumen spielen eine besondere Rolle in seinen Songs. Bereits als Kind bewunderte er die Blumenvielfalt im Garten seiner Großmutter: Neben Passion Flower und Lotus Blossom zeugt vor allem die Blumen-Hommage A Flower is a Lovesome Thing von seiner Begeisterung. Strayhorn schrieb den Song 1941 für Johnny Hodges, den Altsaxophonisten des Duke Ellington Orchestra. Erst später fügte er einen Liedtext hinzu, diese Version mit in Tagträumen schwebenden Gardenien und Mondlicht trinkenden Azaleen wurde in der Interpretation von Ella Fitzgerald berühmt.

LINK: Billy Strayhorn, A Flower is a Lovesome Thing

Cem Karaca: Orte des Widerstands

Der Gülhane-Park (dt. Rosenhaus-Park) in Istanbul gehörte, bevor er 1912 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, zum äußeren Garten des osmanischen Topkapı-Palastes. Der Legende nach hatte der berühmte türkische Dichter Nâzım Hikmet hier ein Rendezvous mit seiner Geliebten Piraye. Um den Polizisten zu entgehen, die ihn mit einem Haftbefehl suchten, kletterte er auf einen alten Walnussbaum im Gülhane-Park. Sein Gedicht "Der Walnussbaum", eine ironisch-poetische Liebeserklärung an Piraye und die Stadt Istanbul, wurde von dem bekannten türkischen Rockmusiker Cem Karaca vertont, der wie Nâzım Hikmet lange Zeit im Exil lebte. Karaca veröffentlichte den Song 1987, als er nach acht Jahren in der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückkehren konnte (während Hikmet bereits 1963 im Exil in Moskau verstorben war). Das Gedicht und der gleichnamige Song versinnbildlichen den Protest gegen Repression und Verfolgung:

„In meinen Blättern schlägt der Puls von hunderttausend Herzen.

Ich bin ein Nussbaum im Gülhane-Park.

Doch du und der Polizist, ihr merkt das nicht.“

Die rhythmisch mitreißende Vertonung dieser Zeilen durch Karaca besitzt noch immer eine große lyrische Kraft, das Lied bleibt ein Aufruf zur Solidarität und zur Verteidigung öffentlicher Räume. In dieser Tradition könnte auch die Gezi-Bewegung, eine der größten Protestbewegungen in der Türkei, gesehen werden. Sie war 2013 entstanden, weil der Gezi-Park, nach dem sie benannt ist, für eine Überbauung gerodet werden sollte.

LINK: Cem Karaca, Ceviz Ağacı