Das Unvollkommene als Ressource

Oder der Garten als Resonanzraum

von Gabriele Holst,

auf Grundlage eines Vortrages zur Einweihung des Palliativgartens der Berliner Charité

"Warum haben Sie angefangen zu studieren?", fragte mich mein Professor, als ich auf der Suche nach einem Diplomthema war.
Meine Antwort: "Ich möchte Gärten gestalten, in denen Menschen sich wohlfühlen."

Dieser Satz, spontan geantwortet, begleitet mich immer noch. Das, was ich unter Wohlfühlen verstehe, hat sich im Laufe der Jahre jedoch sehr geweitet. Um einem Verständnis näher zu kommen, musste ich zunächst differenzieren zwischen Empfindung und Gefühl: Gefühle werden bewusst wahrgenommen, werden identifiziert und meist auch gewertet. Empfindungen dagegen stehen am Beginn unserer Wahrnehmung von Umwelt und werden oft noch nicht einmal bemerkt.

Selbst, wenn sie sich bemerkbar machen, sind sie nicht direkt greifbar. Sie sind Andeutungen, unfertig, unabgeschlossen, unvollkommen. Sie sind ein unendlicher Brunnen, aus dem der Mensch schöpfen kann und verweisen auf Geheimnisse, die es zu entschlüsseln oder zu wahren gilt.

Wenn ich mit diesem Verständnis an die Gestaltung von Gärten herangehe, dann leitet mich die spannende Frage, wie es möglich ist, materielle Strukturen so zu kombinieren, dass Räume für Empfindungen angeboten werden können. Nur: Wird dieses Bemühen überhaupt von den Betrachter:innen wahrgenommen werden? Gibt es, in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem aus meiner Sicht die Ökonomisierung aller Lebensbereiche unsere Vielfalt, unsere Unordnungen, unsere Freiräume immer weiter reduziert, noch eine Offenheit für solche Nuancen? Und sind Empfindungen überhaupt nötig? Um darauf zu antworten, möchte ich einen Ausflug in die Gedankengeschichte rund um das Wahrnehmen der Qualitäten von Natur und Gärten machen.

Christina Straße: Eremurus himalaicus II, Bromöldruck auf Barytpapier, 23 x 23 cm, 2020

Hartmut Rosa und die Resonanz

Der Soziologe Hartmut Rosa benutzt den Begriff der Resonanz, wenn er vom Beziehungsgeflecht von Menschen und Umwelten schreibt. In einer immer sprachloser werdenden Welt – trotz aller Versuche, unsere "Weltreichweite" auszudehnen – spielt die Frage der Resonanz für ihn eine entscheidende Rolle. In dem Maße, in dem die Natur an Bedeutung für die menschliche Entwicklung verlor, verloren auch Körperlichkeit und Sinnlichkeit an Relevanz. Der Körper selbst in seiner Funktion als Medium der Selbsterfahrung und Bindeglied zur äußeren Natur trat spätestens seit der Renaissance immer mehr in den in den Hintergrund. Die Idee des Fortschritts war geprägt durch ein Streben nach Unabhängigkeit von der Natur, ihren Zyklen und Gefahren. So konnte sich, laut Rosa, das zentrale Bestreben der Moderne entwickeln: die Vergrößerung der eigenen Reichweite, des Zugriffs auf die Welt. Daraus entsteht letztlich ein Steigerungszwang, der die Menschen geradezu in einen "Kampfmodus" zwängt, sowie auf der anderen Seite eine verstummte, resonanzlose Welt. Aber, so Rosa, die Sehnsucht nach Widerhall bleibt, beziehungsweise wird sogar größer, was nicht zuletzt auch darin begründet ist, dass das Resonanzbegehren im Kapitalismus in ein Objektbegehren umgewandelt wird. Diese Umwandlung stößt auf folgendes Problem: Materielle Rohstoffe zur Befriedigung des Objektbegehrens sind begrenzt und endlich. Damit wird das, was der Mensch sucht, zerstört und unerreichbar. Die Ausdehnung der dinglichen Befriedigung für eine eigentlich nicht dinglich geprägte Sehnsucht bringt die Zerstörung materieller Ressourcen mit sich.

Immateriellen Rohstoffe hingegen können, wenn wir den Raum dafür öffnen, immer wieder entstehen. Die Resonanz, die entsteht, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet, gräbt eine Fährte zu solchen „Rohstoffen“. Das Ergebnis dieses Prozesses lässt sich nicht vorhersagen oder planen, dem Ereignis der Resonanz ist immer auch ein Moment der „Unverfügbarkeit“ eigen.

Unverfügbarsein ist ein Zeichen von Lebendigkeit. Wir lassen unseren Körper mit seinen Empfindungen und Gedanken in einen Dialog treten. Dabei wissen wir nicht, was passiert, wir probieren, versuchen und lassen uns überraschen.

Christina Straße: Dipsacus fullonum I, Fotogramm, Silbergelatine auf Barytpapier, Mehrfachtonung 28,5 x 20 cm, 2020

Der Garten des Epikur (Philosoph, ca. 300 vor unserer Zeitrechnung)

Epikur legte in der Nähe von Athen einen Garten an, in welchem er mit seinen Schüler:innen lebte, philosophierte und arbeitete. Das Streben nach Glück war einer der wichtigsten Pfeiler der epikureischen Lehre, allerdings nicht in dem banalen Sinne von Lustbefriedigung, sondern in einer ständigen Einübung von Mäßigung, dem gemeinsamen Gespräch, der Suche nach Gleichmut und der intensiven Pflege von Freundschaften. Der Garten Epikurs ist ein Kern seiner Philosophie. Er ermöglichte das Wahrnehmen der natürlichen Kreisläufe von Wachstum und Vergehen, des Wechselspiels von Erde, Wasser, Boden und Sonnenlicht, und den davon ermöglichten Gleichmut einzuüben. Durch das Zusammenwirken von Lebenskräften im Mikrokosmos des Gartens, können für Beobachtende die größeren Harmonien zutage treten. Dadurch, dass das Leben im Garten auf die Pflege der Gärtner:innen reagiert, kann das menschliche Empfinden sich in seinen Zusammenhang mit der Materie einbetten.

Die wichtigste pädagogische Lektion war, dass das Leben in all seinen Formen sterblich ist, und dass die menschliche Seele dieses Schicksal teilt. Der Garten veranschaulichte darüber hinaus die grundlegende Auffassung Epikurs, dass die menschliche Seele einer moralischen, spirituellen und intellektuellen Kultivierung ebenso zugänglich wäre wie der Garten einer organischen.

"Selbstkultur" wurde zum wesentlichen Element der epikureischen Philosophie. Das höchste Ziel der epikureischen Bildung war dabei aber nicht das Erlangen von Weisheit oder Gerechtigkeit, sondern von Glück. Epikur verstand Glück als eine Geistesverfassung und glaubte, diese bestehe in erster Linie aus „ataraxia“, was soviel wie Seelenfrieden, Gleichmut, Unerschütterlichkeit bedeutet. Der Gleichmut ist für Menschen, die üblicherweise von Sorgen geplagt werden und von einem gesteigerten Bewusstsein für den Tod beunruhigt sind, kein spontaner oder natürlicher Zustand. Somit ist ataraxia eine höchst kultivierte Geistesverfassung, die sehr viel Übung und Disziplin erfordert.

Epikurs Texte legen nahe, dass es keine göttliche Vorsehung für den Menschen gäbe, dass der Glaube an die Sicherheit des Wissens das beste Gegenmittel gegen die menschliche Angst wäre. Dadurch, dass Epikur an der Gewissheit festhält, dass die Seele aus Atomen zusammengesetzt ist und sie daher nach dem Tod kein geisterhaftes Nachleben erwartet, kann der Epikureer damit beginnen, Befürchtungen über den Tod abzulegen und dessen Unvermeidlichkeit in die kosmische Ordnung der Dinge einzugliedern. So wurde die Arbeit im Garten, der Umgang mit Naturabläufen, zum Meditieren über die Sterblichkeit von Körper und Seele. Der Garten führt täglich die Verflechtung von Wachstum und Verfall vor Augen. Der Tod ist nicht nur die Beendigung des Lebens sondern auch die Vollendung. Die menschliche Sterblichkeit wird als ein natürlicher Bestandteil des Lebens erfahren.

Der Garten diente auch als Sinnbild der Gefahren, die den Zustand der ataraxia bedrohen. Gleichmut ist von derselben Spannung erfüllt, welche die in sich ruhende Heiterkeit von Gärten durchzieht, nämlich von der Spannung zwischen Ordnung und Entropie. Die Epikureer gingen davon aus, dass beständige Wachsamkeit und Eingreifen erforderlich sind, um die unbändigeren Kräfte der Natur unter wirksamer Kontrolle zu halten. Gleichmut erforderte eine ähnliche Wachsamkeit, wenn Furcht vor dem Tod oder Schuldgefühlen nicht die Oberhand bekommen sollten. Ängste sollten durch das Leben der Philosophie nicht so sehr überwunden als vielmehr verwandelt werden, so wie Gärten – wenn sie gut angelegt sind – die Natur eher verwandeln als überwinden.

Christina Straße: First light III, Silbergelatine auf Barytpapier, 28,5 x 20 cm, 2020

Philosophie des Gartens von Heinrich Rombach (1923 - 2004, Prof. Philosophie)

In seinem Essay "Philosophie des Gartens" stellt Heinrich Rombach die These auf, dass der Garten ein Grundphänomen des menschlichen Daseins sei – genau wie die Religion, die Kunst, die Philosophie oder das Recht. Sicherlich gibt es unterschiedliche Typen von Gärten, die immer auch die Situierung des Menschen in der Natur auf jeweils unterschiedliche Weise spiegeln, aber was macht das Wesen des Gartens aus? Rombach beschreibt ihn als einen Ort, in dem sich zwei Gestaltungsprinzipien begegnen: die aus der Welt der Menschen stammende thesis, womit Ordnung, Setzung, Wille, Absicht gemeint ist, und die der Welt der Natur innewohnende physis, womit ein unbezwecktes Hervorgehen gemeint ist: "Er muss so angelegt sein, dass sich in ihm die Natur ungezwungen entfalten kann, und auch wieder so, dass man darin die glückliche Hand des Menschen erkennt." Rombach findet dafür den Begriff der "Konkrezsivität": das Zusammenwirken von Mensch und Natur in einem dialogischen Prozess. In diesem Sinn sei der Garten sogar als Modell einer gelingenden Gesellschaft zu übertragen sind.

Gernot Böhme (1937 - 2022, Prof. für Philosophie) und das Sich-Befinden in Atmosphären als eine neue Form der "Naturästhetik"

"Als ökologische Lehre wird das Augenmerk der Naturästhetik darauf liegen, wie es den Menschen in bestimmten Naturumgebungen ergeht. Ihr Thema wird also gerade das sein, was in der bürgerlichen Ästhetik verpönt war, nämlich das, was 'zu Herzen geht'." Böhme möchte, dass die Naturästhetik die sinnliche und emotionale Erfahrung von Natur rehabilitiert. Die Entfaltung des Sinnenbewusstseins ist die Möglichkeit, die Menschen in das aktive Wahrnehmen leiblicher Existenz einzuüben und ein Empfinden dafür entstehen zu lassen, was es heißt, selbst Natur zu sein. Böhme fordert die Erweiterung beziehungsweise Rückorientierung des Ästhetik-Begriffes auf „ein Sich-Befinden in Atmosphären“. Dann ist Ästhetik nicht mehr die Beurteilung von Kunstwerken nach bestimmten Kriterien, sondern eine Lehre der Wahrnehmung zwischen Subjekt und Umgebung. Wahrnehmung kann in diesem Sinn zu Gestaltung werden.


Garten als Resonanzraum

Der Garten, wie er in den Schriften der mich begleitenden Denker präsent ist, hält viele Möglichkeiten parat, unsere Lebensform zu prägen. Er ist jedoch nicht primär als Kompensation für Defizite im Alltag anzusehen. Er sollte keine Medizin als vielmehr bewusstes Lebensmittel sein. Kein Ort für den Ausstieg aus dem Alltag als vielmehr Teil davon. In diesem Sinn wird er auf unaufgeregte Weise Änderungen in uns anzuregen und Empfindungen vertiefen. Im Garten als Resonanzraum begegnet uns eine gestaltete Vielfalt, die auf eine Art und Weise berühren kann, die nicht manipulativ ist, sondern zum Dialog und zur Reflexion anstiftet. Ein Garten schwingt zwischen Ruhe und Dynamik, Überraschungen und Kontinuitäten, Geheimnisvollem und Erkennbarem.

"Blumen konfrontieren uns mit einer Schönheit, die unabhängig vom menschlichen Willen existiert – mit einer Schönheit, die wir nicht erschaffen, sondern nur in unseren Gärten kultivieren können." (Robert Harrison)


Pflege ist die Grundbedingung von kultureller Entwicklung

Es gibt keine Kultur ohne Pflege. Die Sorge um den Boden, die Pflanzen und die Tiere erfordert viel Wissen und noch mehr Erfahrung. Daraus entsteht ein Vorstellungsvermögen über die Entwicklungsmöglichkeiten eines Gartens. Um dann wirklich gestalten zu können, braucht es außerdem ein Loslassen von festen Vorstellungen eines Gartens „als Endprodukt“. Das fällt schwer, weil wir uns auf ein Gebiet des Unplanbaren, des Ungewissen – und letztlich des Unverfügbaren – begeben. Darüber hinaus ist meine Arbeit als Gartenplanerin nie frei von der inneren Haltung der Gartennutzer:innen und der zukünftig Pflegenden. Durch die Initialgestaltung kann ich zu Möglichkeiten der Wahrnehmung anstiften, aber was dann passiert, das liegt im Auge derer, die mitwirken an der Entfaltung des Gartens. Der Dialog beginnt mit jeder Saison, mit jedem Regen, jeder Plage, jedem Blütenwunder, jedes Mal auf's Neue.

Lesestoff

Hartmut Rosa: "Unverfügbarkeit"

Robert Harrison: "Gärten"

Joachim Bauer: "Wie wir werden, wer wir sind"

Heinrich Rombach: "Philosophie des Gartens" in "Wieviel Garten braucht der Mensch"

Epikur: "Philosophie der Freude"

Friedrich Schiller: "Von der Schönheit zur Freiheit"

Gernot Böhme: "Aisthetik" und "Für eine ökologische Naturästhetik"