Wir wollen dieses mysteriöse Gleichgewicht von Chaos und Ordnung

In Zusammenarbeit mit der Autorin Astrid Kaminski entstehen hier Beiträge rund um die Themen Naturbeziehungen und Gartenkunst, darunter Interviews und Gespräche mit Expert:innen, die spannende Perspektiven ihrer Arbeit teilen. Außerdem treffen wir uns viermal im Jahr, um zusammen auf den Steppengarten zu schauen, über seine Entwicklungen, Eigenarten und die Fragen, die er aufwirft, zu sprechen.

Spätsommer/Herbstrundgang Mitte September 2023 an einem sonnigen Tag mit Gabriele Holst, Astrid Kaminski und Steffi Kieback

Astrid: Gabi, du hast, als ich in den Garten kam, gerade einen Schatz entdeckt!

Gabi: Ein Schätzlein. Eine Helleborus, eine sogenannte Nieswurz oder auch Schnee- beziehungsweise Lenzrose. Der botanische Name ist etwas weniger feierlich. Er verweist darauf, dass alle Arten dieser Gattung Helleborin enthalten, einen sehr giftigen Wirkstoff, dessen Name aus den griechischen Worten "hellein" für töten und "bora" für Speise zusammengesetzt ist. Fürs Auge ist Helleborus jedoch eine Wohltat, besonders, weil die Pflanze in den Wintermonaten blüht. Sie bildet wunderbare weiße oder auch ins Rötliche oder Violette verlaufende Blüten. Hier sehen wir nur die Blätter. Sie waren eine ganze Weile versteckt. Nun tauchen sie hier und da auf. Das ist das Spannende an einem dynamischen Garten: Es entwickeln sich immer neue Gruppierungen. Wenn du den Blick schweifen lässt, werden dir noch mehr dieser kleinen Helleborus-Inseln auffallen. Die immergrünen Blätter sind relativ dunkel und heben sich zurzeit schön von den helleren Grün- und Ockertönen des Spätsommers ab. Solche Blatteffekte, farblich sowie auch in Bezug auf Wuchsform, sind wichtig für die Textur des Gartens.

Aussaat und Selbstvermehrung

A: Die Nieswurz sät sich also selbst aus. Wie haltet Ihr es generell mit Selbstvermehrung, sei es durch Rhizome oder durch Aussaat?

Steffi: Hier ist zum Beispiel eine intensiv rote Blüte, eine Knautia macedonica oder Mazedonische Witwenblume, die sich selbst aussät, und das auch tun soll. Wenn es mal zu viel wird, lässt sie sich einfach rausziehen. Das gehört zum Prinzip der dynamischen Pflege. Eine andere Pflanze, die sich selbst durch Wurzelbildung und durch Saat ausbreitet, ist die Prärieaster – Aster turbinellus. Sie hat blassviolette Blütenköpfchen, wird gut einen Meter hoch und ist hier überall zu sehen. Vielleicht heißt sie jetzt übrigens schon wieder ganz anders. Viele Astern werden derzeit umbenannt. Die Botaniker machen genetische Analysen und ordnen dann die Pflanzenarten immer wieder neu zu.

G: Die turbinellus – wir nennen sie jetzt einfach so – ist etwas schwieriger zu kontrollieren und hat zudem die negative Eigenschaft, dass sie sich gerne an die Wurzelballen der Gräser setzt, weil es da wahrscheinlich viel Futter für sie gibt. Viele Gräser vertragen das nicht, sie lassen sich dadurch im wörtlichen Sinn platt machen.

A: Wie kontrolliert Ihr die Dynamik, sodass niemand den anderen platt macht?

S: Naja, wir ziehen raus, was stört. Anders gesagt: Wir wollen dieses mysteriöse Gleichgewicht von Chaos und Ordnung.

G: Wir sind mit in dieser Dynamik. Jedes Mal müssen wir aufs Neue ein Gefühl für die Proportionen entwickeln und entscheiden, wie und ob wir eingreifen. Spannend ist, dass jede von uns – Steffi oder Agathe oder Susanne – ein wenig anders empfindet und so immer auch verschiedene Kompositionen entstehen. Wobei natürlich wichtig ist, dass wir wissen, wie welche Pflanzen reagieren, wenn wir eingreifen.

A: Gibt es in Bezug auf das dynamische System Überraschungen?

S: Das mit der Aster war eine große Überraschung! Ich habe inzwischen gelernt, dass die Selbstaussaat umso stärker wird, wenn man verschiedene Asternsorten im Garten hat – oder aber, wenn die Nachbarn auch welche haben. Wir können das starke Säen vermeiden, wenn wir bei einer Asternart bleiben, sodass sie nicht in Experimentierfreude verfallen und sich kreuzen… Andererseits ist das Wissen um solche Dynamiken sehr gut für Standorte, an denen sich nur bestimmte Arten halten können, und wo das Prinzip des explosiven Vermehrens gewollt ist.

G: Andersherum macht mir der Steppensalbei, der immer eine Konstante war, derzeit etwas Sorgen. Und bei der aus Nordamerika stammenden Echinacea, dem Purpur-Sonnenhut, die auch als Heilpflanze bekannt ist, mussten wir Lehrgeld bezahlen. Inzwischen ist klar, dass die meisten dieser Pflanzen schnell vergreisen und nicht sehr langlebig sind. Wir müssen sie also immer wieder nachpflanzen, wenn wir auf die freundlichen Rost-, Orange- und Pinktöne nicht verzichten wollen. Wobei es wichtig ist, die Bezugsquellen gut zu kennen, weil die Kurzlebigkeit auch wirtschaftliches Kalkül sein kann.

Das Wetter als Gärtner

A: Es ist jetzt gegen Ende September. Inwiefern hat das diesjährige Klima Einfluss auf die Entwicklung des Steppengartens gehabt? Was ist vielleicht anders als in anderen Jahren?

S: Ein Beispiel ist die Rudbeckia maxima, der Riesen-Sonnenhut. Wir können derzeit ihre großen, ovalförmigen, leicht ins Graue tendierenden Blätter sehen. Eigentlich müsste zu dieser Jahreszeit ein langer Stiel aus ihr herauskommen mit einer zitronengelben Blüte, die einen relativ großen schwarzen Kegel mit den Röhrenblüten umgibt. Die Rudbeckia ist wichtig für die vertikalen Achsen des Gartens, sodass es hier nicht zu wiesenartig wird. In diesem Jahr war es im Mai und Juni jedoch sechs Wochen lang sehr trocken – das heißt, in einer Zeit, in der diese Pflanze, die aus einer eher hohen Prärie kommt, für die Entwicklung ein wenig Feuchtigkeit braucht. Die konnten wir ihr nicht bieten und so hat sie dieses Jahr keine einzige Blüte. Dafür blüht die Cimicifuga, die ursprünglich aus Asien stammende Silberkerze.

G: Sie hat von dem vielen Regen, der dann später im Juni einsetzte, profitiert, während er für den Sonnenhut zu spät kam. Auch die Gaura, die Prachtkerze, ist gut präsent. Ursprünglich hatten wir sie schon als Mäusefutter abgeschrieben, aber es konnten sich doch welche erhalten. So haben wir in diesem Jahr ganz andere Akzente – eher wogende ätherische Lichttupfer als starker gelben Vertikalen.

A: Die Wolken von Kohlweißlingen, die darüber fliegen, passen auch gut ins Bild.

S: Das klingt jetzt so, als ginge es im Steppengarten in erster Linie um die Blütenfarbe. Es ist zwar richtig, dass wir in dieser Beziehung eine bestimmte Abfolge haben, bewusst rhythmische Intervalle anlegen und uns einüben in die Möglichkeiten der Farbpalette, aber die erste Frage ist natürlich: Welche Pflanze passt zu welchem Standort? Als nächstes ist auch sehr wichtig, wie sie nach dem Abblühen aussehen. Haben sie auch dann noch eine gute Struktur? Um die Frage zu veranschaulichen, können wir die Amsonia betrachten: Ihre Blüte mit zierlichen blauen Sternen ist schon vorbei. Was wir jetzt sehen, sind schöne Samenhülsen und ein üppiger krautartiger Blattstand, der sich später im Jahr quittengelb färbt. Etwa Zweidrittel der Anpflanzungen sollten den Aspekt der stabilen Pflanzenkörper gewährleisten. Auch die Blattfarbe ist wichtig: Wie harmoniert sie mit den Gräsern, wie ergänzen sich die Grün-, Braun- und Blautöne? Erst danach kommt die Blütenfarbe als Aspekt dazu. Je nach Entwicklung versuchen wir dann Nuancen zu variieren oder die Farbpalette zu ergänzen. Das ist ein großer Unterschied im Vergleich mit Anpflanzungen im Stil sogenannter „English borders“, wo die Farbkombination das wichtigste Merkmal ist und eine Pflanze, die nicht in diesem Sinn mitspielt, beispielsweise nicht gut wächst, direkt ersetzt wird.

Euonymus alatus, Rudbeckia triloba, Gaura lindheimeri, Aster turbinellus

A: Dennoch: Der Steppengarten ist ein optisches Erlebnis, ein Gemälde in Bewegung. Spaziergänger:innen können aber wegen des Zauns nicht hineinlaufen. Dadurch gibt es weniger Perspektiven als wir sie jetzt haben. Wäre es nicht schön, wenn andere Menschen genauso viel entdecken könnten?

G: Den Zaun mussten wir leider wegen der Kaninchen setzen. Er wirkt. So haben wir eine viel größere Varietät an Blüten als wir ohne hätten. Aber ja, es ist schade. Eine Möglichkeit wäre, einen Steg durch den Garten zu bauen. Aber das wäre nicht historisch.

A: Was ist denn hier überhaupt historisch zu nennen? Wenn Ihr nicht freiwillig gärtnern würdet, dann wäre hier doch gar nichts?

S: Der Steppengarten wurde 1953 von Willy Alverdes angelegt als Bepflanzungsmöglichkeit für trockene, sandige Böden und wurde über Jahrzehnte gepflegt. In den 90er-Jahren setzte dann eine Sparwelle ein und Stellen wurden gestrichen oder nach Ruhestandsübergängen nicht neu besetzt. Es kam die Wende und der ganze Tiergarten bekam eine ganz andere Position in der Stadt. Früher stand der Steppengarten sozusagen im Schatten der Mauer, es war sehr ruhig und abgelegen hier – abgesehen von der betriebsamen Entlastungsstraße. Nach der Wende wurde der Tiergarten überarbeitet, Alleen angelegt und teils alte Strukturen wieder hergestellt, so wie zum Beispiel das kaiserzeitliche Venusbassin hier gegenüber. Nun konnte aber nicht ein Garten aus den 50er-Jahren danebenstehen, weshalb trennende Wege entstanden, die sich ziemlich ungereimt zur Anlage des Gartens verhalten. 2009 wurde der Grund komplett neu aufgeschüttet und bepflanzt, jedoch nicht gärtnerisch gepflegt. Was zur Folge hatte, dass schon ein Jahr später alles überwuchert war von Brennnesseln, die so groß waren wie ich, sowie von Beifuß und allem, was sonst auch auf Berliner Brachen wächst. Laut einer Bestandsaufnahme, die wir gemacht haben, waren bereits 50 Prozent der gepflanzten Gräser und Stauden im Jahr danach weg.

G: Der Vorgang war symptomatisch dafür, wie in Berlin mit Neuanpflanzungen umgegangen wird. Es wird viel Geld in Anschaffungen gesteckt und danach geht vieles kaputt, weil nicht genügend in die Pflege investiert wird. Das konnten wir so nicht mitansehen. Die Idee des Steppengartens als Modell eines berlinspezifischen Bepflanzungssystems war zu spannend. Mit dem ganzen Brennnesselbewuchs wäre letztlich nichts geblieben, als das Ganze abzumähen, und kein Mensch hätte mehr gesehen, dass die Wiese mal ein Garten war. So war es unser Ziel zu zeigen, was durch Pflege möglich ist, mit der Illusion, dass wir damit politisch etwas erreichen würden. Leider war das wirklich eine komplette Illusion. Politisch hat sich nichts verändert. Es wird an der Pflege gespart, und Pflege ist auch im Gartenbereich weiblich. Das Übliche. Es ist noch viel zu tun, aber immerhin konnten wir diesen einen Garten retten. Wir haben die Pflanzenlisten des Gartengründers Willy Alverdes gefunden und studiert und versucht modern zu interpretieren sowie auch auf die veränderten Lichtverhältnisse anzupassen. Darin sind wir ganz frei und haben keinerlei Ansprechpartner:innen bei den Ämtern. Wenn wir also „denkmaluntypisch“ arbeiteten, fiele es nicht auf. Sobald wir aber bauliche Strukturen einbringen würden, wäre es etwas anderes.

Samenstände des Weißen Weidenröschens

Wir bewegen uns im Storchengang vorsichtig zur Ostseite des Gartens. Entlang der blassgelben Skabiose, den in diesem Jahr etwas mickrigen Steppensalbei, Storchenschnabel, Wermuth und verblühten Königskerzen ist unser Ziel die Seidenpflanze – einem Liebling von Gabi und Steffi. Die orangefarbene Staude ist schon verblüht. Ihre attraktiven Samenstände sind leicht geöffnet und wir können Wind spielen und einige der Samen mit den filigranen Fallschirmen über die Berliner Steppe fliegen lassen. Mal sehen, wo es ihnen gefällt und ob es im nächsten Jahr Seidenpflanzenschätze zu entdecken gibt.

Atlas-Mohn, Lavendel, Federgras

A: Was erwartet Ihr für den Herbst noch an Entwicklungen und Blüten?

S: Einen großen Akzent werden die burgunderroten Chrysanthemen bilden, die bis in den Dezember hinein blühen. Ihr Blutrot macht einen starken Eindruck in der dann grauer werdenden Landschaft. Davor aber wird noch der Euonymus, der Kork-Spindelstrauch ein flammend rotes Gewand bekommen, das er dann innerhalb von etwa einer Woche abwirft – wie ein Feuerwerk.

G: Danach wird die schöne Textur seiner Äste sichtbar, die mit Korkleisten versehen ist. Auch die Aststruktur an sich ist sehr skulptural. Außerdem werden noch mehr Herbstastern, Vernonia (Arkansas-Scheinaster), blühen und dann langsam die Gräser das Farbschauspiel übernehmen, in dem sie an den Stängeln Violetttöne entwickeln. Auch die schwarzen Frucht- und Samenstände lassen wir stehen, sodass auch das Pointilistische des Gartens im Winter erhalten bleibt, bis die Stängel sich dann irgendwann im neuen Jahr niederlegen.